Sally Joy, das Fischerboot

Fassade, Anstrich verblasst,
Schürfstellen, Schrunden, wohin man schaut,
Würdemale arbeitsreicher Vergangenheit.
Aus und vorbei, so könnt es scheinen

Sally Joy, altes Mädchen,
wenn nur dein Name nicht wär,
Sally, Aufbruch, Joy, die Freude, Lust
am Stechen in See.
Bug in die Gischt, flatternde Wimpel voraus

Heut noch aufgebockt, vertäut,
doch für den Hafen nicht gemacht,
morgen wieder im geliebten Element.
Tage, Nächte im Auf und Ab,
Hin und Her von Wogen, Böen, Fangnetzgestrüpp

Ewig könnt’s so weitergehen,
solang die Erde sich dreht

Sprecher: Götz van Ooyen

Jugendfoto

Wie unschuldig er ist
und jung,
langes Haar, offener Blick

Fünfzig Jahre genau
liegen zwischen ihm und mir
und mehr als tausend Kilometer

Es ist das, was einst ein Leben gewesen,
wodurch er sich mir nähert
und ich mich ihm

Das war – ich – bin’s
nicht mehr

Halt das Bild in meiner Hand
traurig, kann mich nicht lösen

Was er wohl von mir hielte –
wenn ich sein Großvater wär‘

Ich hoff‘ so sehr, er tät mich mögen

Sprecher: Götz van Ooyen

Letzte Station

So stehen sie da,
der Gepäckkarren ihre Bleibe,
gepackt, gestapelt, Koffer voller Leben,
so vieles erlebt, erlitten, erfahren

Rings umher
Reisende, angespannt,
Gewirr an Stimmen, wechselnder Züge,
Ankunft Abfahrt Zwischenstopp

Nachts, Stille,
Gleise im Schimmer der Lampen,
Erinnerungen werden wach, Sehnsucht nach der Ferne,
die Ahnung, dass nicht geschieht, was doch kommen soll

So stehen sie da,
die Gewissheit wächst,
letzte Station

Sprecher: Götz van Ooyen

Wohin

Rauf oder runter,
die gewendelten Stufen
im Turm.
Aufwärts, zum Licht,
hinab, ins Dunkel

Zur Spitze,
furchtlos, schwindelfrei.
In die Tiefe,
achtsam, erdverhaftet.
Sturzgefahr
in beiden Richtungen

Der letzte Weg führt
abwärts nach oben

außer sich

Sprecher: Götz van Ooyen

Lebenszeit

Geboren.
Von nun an gilt’s, die Lebensuhr,
sie tickt.
Kindheit, Jugend, Erwachsensein,
schier endlos die Zahl an Stunden, Tagen,
fluide Summation der Zeit.

Eines Tages,
jäh,
ist er da, der Gedanke an das Ende der Perlenschnur,
Lebenszeit, unabänderlich knappes Gut.
Suche nach Sinn, gegen Verzagtheit und
Verwirrung Wechsel der Perspektive.

Die Eintagsfliege, vierzig Minuten,
ein paar Stunden zwecks Vermehrung nach dem Schlupf,
und sie stirbt ab.
Das Rotkehlchen, sangesfreudig,
zwei bis drei Jahre, manchmal etwas mehr.
Dagegen der Grönlandwal, zweihundert, und
der Grönlandhai, vierhundert.
Aber erst der Riesenschwamm,
auf antarktischem Meeresboden wachsend,
zehntausend Jahre ein Exemplar,
oder turritopsis dohrnii, eine Qualle im Mittelmeer,
unsterblich, mittels Zellverjüngung.

Also – die Eintagsfliege möcht ich nicht sein,
das Leben so kurz, rein arterhaltend,
das Rotkehlchen, der fröhliche Sänger,
verlockend schon, aber mein Gesang und im Winter
ohne Ofen, ach, lieber nicht,
Hunderte von Jahren bei Wal und Hai,
zehntausend gar beim Schwamm,
als Kost freilich Meeresgefleuch,
Plankton und Bakterien,
oder quallig-unsterblich vor Italien, Mallorca,
doch allzeit im Wasser,
nicht an Mediterraniens Land.

Nichts davon
scheint mir meines Lebens wert,
sei es wie es sei.
Gern vorlieb nehm ich da mit dem,
was ich bin, will, kann,
was zu ertragen, zu ändern ich vermag.

Wenn das nun alles ist,
ja, ich hör,
warum dann das Gedicht?
Das Leben spendierte mir
die Zeit dafür.
Ich find, so wenig ist das nicht.