Letzte Station

So stehen sie da,
der Gepäckkarren ihre Bleibe,
gepackt, gestapelt, Koffer voller Leben,
so vieles erlebt, erlitten, erfahren

Rings umher
Reisende, angespannt,
Gewirr an Stimmen, wechselnder Züge,
Ankunft Abfahrt Zwischenstopp

Nachts, Stille,
Gleise im Schimmer der Lampen,
Erinnerungen werden wach, Sehnsucht nach der Ferne,
die Ahnung, dass nicht geschieht, was doch kommen soll

So stehen sie da,
die Gewissheit wächst,
letzte Station

Sprecher: Götz van Ooyen

Wohin

Rauf oder runter,
die gewendelten Stufen
im Turm.
Aufwärts, zum Licht,
hinab, ins Dunkel

Zur Spitze,
furchtlos, schwindelfrei.
In die Tiefe,
achtsam, erdverhaftet.
Sturzgefahr
in beiden Richtungen

Der letzte Weg führt
abwärts nach oben

außer sich

Sprecher: Götz van Ooyen

Leben, im Lauf

Umhüllt

Geplant ungeplant
unentrinnbar Schlusspunkt
eines Geschehens
von anderen gesetzt
obzwar sich erfindend
eingerollt umhüllt eins
in Wärme geschmiegt
pulsiert wie schwerelos getragen
lauschend gedeihen

Staunen

Licht Mutter Vater
Dunkel Schlafen Feen der Wind
Aufwachen Rascheln Wispern
Hunger gestillt, Geborgenheit
Kreise größer ziehen erobern
Sommer zirpend warm im Duft
Blätter wehen lagern angehäuft
Schnee knuspert wässert auf der Zunge
honigleuchtende Kerzenflammen abends

Freunde

Kinder, viele, beschnuppern
befreunden sich in Straßen
Gärten anderswo miteinander
streitend vergebend begreifen
Einschnitt Schule
einfügen abarbeiten mit Lust
oder ohne sie, sträubend sich gebärden
Ferien als endlose Weite doch
unerbittlich gekappt wie stets zuvor

Aufbruch

Ausmalen des Wünschbaren
gar Ersehnten, kühn oder bescheiden
unverwechselbar Ich sein
die taufrischen Jahre des
Berührtseins, widerständig
eingewurzelter Ambitionen
voller Überzeugung daran festhaltend
behutsam tastend oder mit festem Ziel

Wege

Reifen Gehen Meistern
Hoffnungen erstarkt betäubt
Scheitern Wiederaufstehen
Neuem begegnen glückliche Wende
euphorisch Lieben im Trubel
Lachen glücklich erschöpft
sich zusammentun gründen
aufbauen, auch allein
möglichst der Boden nicht entzogen

Erwarten

Verbliebene Jahre Dekaden
erhofft und – verstört Setzen
auf hinlängliche Spieldauer,
der Schlussakt, das was aufgehoben
doch anders ein letztes Mal
erblüht Lebensfreude
trotzt dem Drohen blitztünchenden
Verfalls von Ausdruck Gedanken
im erkaltenden Nebel

Freigegeben

Das Einst mäandert im trägen Dämmer
die Eltern eine Frau ein Mann wandeln
sich verschwimmen entschwinden
treibend in Musik schnell noch schneller
ich entkomme nicht bin gefangen –
abrupt heller Gleißmond im graugrünen
Intransparent abgleitend gezogen
ins Kaleidoskop verspiegelt
in der Drehung

werde leicht
hör

den Dauerton

   

    

Lebenszeit

Geboren.
Von nun an gilt’s, die Lebensuhr,
sie tickt.
Kindheit, Jugend, Erwachsensein,
schier endlos die Zahl an Stunden, Tagen,
fluide Summation der Zeit.

Eines Tages,
jäh,
ist er da, der Gedanke an das Ende der Perlenschnur,
Lebenszeit, unabänderlich knappes Gut.
Suche nach Sinn, gegen Verzagtheit und
Verwirrung Wechsel der Perspektive.

Die Eintagsfliege, vierzig Minuten,
ein paar Stunden zwecks Vermehrung nach dem Schlupf,
und sie stirbt ab.
Das Rotkehlchen, sangesfreudig,
zwei bis drei Jahre, manchmal etwas mehr.
Dagegen der Grönlandwal, zweihundert, und
der Grönlandhai, vierhundert.
Aber erst der Riesenschwamm,
auf antarktischem Meeresboden wachsend,
zehntausend Jahre ein Exemplar,
oder turritopsis dohrnii, eine Qualle im Mittelmeer,
unsterblich, mittels Zellverjüngung.

Also – die Eintagsfliege möcht ich nicht sein,
das Leben so kurz, rein arterhaltend,
das Rotkehlchen, der fröhliche Sänger,
verlockend schon, aber mein Gesang und im Winter
ohne Ofen, ach, lieber nicht,
Hunderte von Jahren bei Wal und Hai,
zehntausend gar beim Schwamm,
als Kost freilich Meeresgefleuch,
Plankton und Bakterien,
oder quallig-unsterblich vor Italien, Mallorca,
doch allzeit im Wasser,
nicht an Mediterraniens Land.

Nichts davon
scheint mir meines Lebens wert,
sei es wie es sei.
Gern vorlieb nehm ich da mit dem,
was ich bin, will, kann,
was zu ertragen, zu ändern ich vermag.

Wenn das nun alles ist,
ja, ich hör,
warum dann das Gedicht?
Das Leben spendierte mir
die Zeit dafür.
Ich find, so wenig ist das nicht.