Menschen – Poetische Porträts

Das kleine Glück im Einmachglas

Das kleine Glück,
ihr kleines Glück ist groß,
bewahrt wie im Einmachglas,
Großvaters Bild vom Wald,
die Stadtlichter, Sternenhimmel des Nachts,
mit zwanzig wie einst als Kind erfahren,
Momente ihrer Geschichte
als Erfüllung

Die Zukunft,
unsere Zukunft fast aussichtslos,
der Kollaps nahend, so sieht sie es,
wie viele andere, jung meist,
tief enttäuscht, Besserung
kaum mehr erhoffend, sondern fordernd,
schnell soll, muss diese kommen,
voller Ambition klagt sie an 

In der Nische,
in ihrer Nische lebt sie
den Widerspruch vom Glück im Hinterhof,
bei sich und, draußen, dem Protest
in den Straßen,
ferne Länder, die sie bereist,
vielseits vernetzt, Blickwelten,
genordet wirkt sie, umtriebig zugleich

Zeit,
ihre Zeit verschwenden,
dies kann sie nicht, setzt sich ein für das,
was unabweisbar ist,
vordringlich, nachdrücklich,
angesichts der Nöte zu vieler Menschen,
von Kriegen, unzählig, unmäßig,
möglich der Niedergang

es schmilzt dahin das Einmachglas, es bricht,
das Ende – gegenhalten, jetzt

Hallo sagen, den Menschen, der Sonne, dem Wind

Anadolu.
Auf dem Land, im Dorf,
ächzend in der Glut des Sommers,
inmitten der großen Familie
wächst er auf, lebt wie ein Vogel so frei,
der Baum, Wohnstatt für ihn, die anderen Kinder,
Hahnenkampf, das Gezeter der Tiere, Männer nebenan,
Glückskind, er bewegt, lachend, zugewandt, die Herzen, 
Nächte auf dem Dach, die Sterne, Atem haucht in die Dunkelheit.
Flötenklänge, fern von den Bergen.

Jugendzeit.
Feuerrot, der Aufruhr,
es wird gemordet, Menschen hängen,
Aleviten, sein Volk,
Stärke kann man lernen, so er und wehrt sich
mit anderen, Genossen und Genossinnen,
es treibt sie in den Kampf,
dann kommt der Putsch, es wird eng,
erstickt, verfolgt, flieht er
aus dem Land ins andere, merhaba.
BRD.

Suche.
Nach Arbeit,
Überleben, Existenz,
er schuftet, geschenkt wird hier nichts,
Frauen kommen, manche gehen,
die Eine und die Kinder bleiben,
es gedeiht sein Imperium mit ihm,
so genießt er das Leben, Gespräche und Kultur
am Straßeneck, der Insel, eine Heimstätte,
durch ihn, für Menschen, die er um sich schart.
Gastlichkeit.

Spiegel.
Überall zu finden, in Fensterscheiben, Gesichtern,
Augen, das Letzte, betrachtet vor der Nacht,
in der er Vergangenes vermisst, träumend
von seinem Vater, spaßig, geberfreudig,
allerorten bekannt, verbunden mit ihm,
sich verlierend in Musik, die ohne Grenzen ist
wie die Liebe, Essen am großen Tisch, ein Lächeln,
es möge kommen wie er prophezeit, Wasser findet
seinen Weg, so auch Frieden, Gerechtigkeit, Kultur.
Humanität.

Hundert Jahr möcht‘ ich werden

Nicht zurückgewichen,
bereits als Kind, schüchtern zwar,
doch kämpferisch,
wie in den Sagen des Mittelalters
tritt er ein für das, was wahr ist,
gerecht, es ist, wie es ist, und
anders nicht

So ist er noch und stets geblieben,
in den Sechzigern nun,
unbeirrt und trotzig, wenn im Recht,
analysiert die Menschen rings,
aus der Distanz, mit Vernunft und
kontrolliert, handle entschieden,
geh in die Ruhe, er, vor zurück – und still

Sternguckerzeit, die Nacht,
Auflösen des Beständigen im Traum,
tauchend in halluzinogene Metamorphosen,
so ist er auch,
bei den Plänen, tags, der Fron zuweilen,
er, das Leben ertragend,
ungeduldig wie stoisch

Schmetterlinge, flatternder Tand,
lockt aus der Geschäftigkeit,
ihn, den Forschergeist in die Spur,
nachspüren, Rätsel lösen,
Siegen im Experiment, im Spiel,
kleine Momente, ihm vergönnt,
Freude, die strahlt, die bleibt

Hundert Jahr möcht‘ er werden,
hat noch genug zu tun, zu sagen

Mondlichte

Hier im Land
im Übergang der neunziger, zweitausender Jahre
wächst sie auf,
Zwischengebiet türkisch-deutschen Lebens,
Land im Land
ohne Pass und Botschaft,
so viele kennen noch bereisen es,
die Großeltern sind‘s,
die sich kümmern,
Geborgenheit, Zuneigung geben,
eingewandert einst, innig geliebt

Früh schon
der Einschlag, unerwartet,
Rückwanderung der zwei ins Heimatland,
lockende Türkei, weit fort, aus den Augen,
weggerissen der Boden, auf dem sie stand,
lebte, sich bewegte,
verloren das Urvertrauen des Kindes
in das, was doch immer da ist,
wie Sonne, Wind und Regen,
Freunde, Schule, Haus,
auch die Eltern, sie fangen auf, sichern ab

Neuanfang
heißt Um-Stellung, alles anders als zuvor,
sie wächst, nicht nur auf, sondern an sich,
es gibt Tiefen, Höhen, üblich wie dramatisch,
Freude, Frohsein, die Momente jenseits der Jagd
nach dem Glück, genießt sie
im Zusammensein mit Menschen
verschiedenster Provenienz, anatolisch, arabisch,
deutsch, armenisch, spanisch,
Integration, wie selbstverständlich
bei Essen, Trinken, im Gespräch

Toleranz, Akzeptanz
fordert sie ein, Ausgrenzung, Unverständnis,
Hass klagt sie an, werden bekämpft von ihr,
ihrer Verluste bewusst, der Aderlass,
den das Leben ansetzt, einfach so und plötzlich,
übt sie das Erholen, Aufstehen, Wege finden,
ihr Refugium die Familie, ihre Kinder
Herz erwärmend, wenn sie tanzen, die zwei,
dann jubiliert sie im Ein-Klang mit Natur und Erde,
mit sich, vollkommen im Schlaf,
beim Schein des Mondes, wolkenumflort

Das Haus und die Bank

Du stehst.
Wie angewurzelt.
Überrascht,
staunend,
im Bann.

Weiß
wie die Cliffs
hier bei St. Margaret’s,
über der Bay,
strahlend elegant.

Hier wohnen.

Und so träum ich
auf der Bank am Weg
mich hinein und
hinweg zugleich.
Über’s Meer, das ich seh und hör.

Bescheiden und entrückt.

Jack in the box

Weißgrau silbernd
die urbane Silhouette, Hauptrollen
gewohnt, begnügt sich widerwillig,
mürrisch mit schlichter Statisterie

Holztruhen massiv
laufen ihr den Rang ab, dunkle Gesellen
einer fremdartigen Welt, Bilder Bücher Kuriosa
fesseln Krämer Käufer Krakeler

Ob des Nachts
geckernd buntes Volk den Truhen entweicht,
Protaginisten gehorteter Gazetten Trödeleien,
malerische Gestalten, schillernde Helden,
krude Übeltäter

Trubel des Absurden
alles tanzt, dreht sich, wirbelt jede mit jedem
zu lautloser Musik, keine Vergangenheit ohne
Schuld, schneller schneller, Irrwitz in Trance –
Zusammen Bruch im Morgenlicht

Und versteinert schaut die Diva zu       

Scabiosa

Wie Lampions im Wind,
Schwämmen gleich im Ozean,
schwanken, treiben sie,
gehalten, gegründet von gräsernen Halmen

Die Botanik aber lehrt: sie siedeln an Land,
fest auf und in der Erden,
trockener Standort bevorzugt,
windgeschützt und warm

Verweht, durchnässt –
nein, das ist nicht ihr Metier.
Scabiosa, Geißblattgewächs, Kardenpflanze,
kratzig, krätzig, in zartem Pastell

Das Schöne, scheu, entzieht sich gern –
existiert nicht draußen im All ein Asteroid im Hauptgürtel,
irgendwo zwischen Mars und Jupiter,
namens (1228) Scabiosa, earth distance 2.956 au.
Was sagt man dazu?

Pfostensteiger

Leitungen über Land,
oben am Mast,
im Winkel verspannt.

Frühe Erinnerungen blitzen auf –
Männer mit Steigeisen und Gurt,
an hohen Pfosten
klettern sie empor,
als wenn das
gar nichts wär,
arbeiten, an Fuß
und Hüfte fixiert,
frei Hand
in luftiger Höh,
wettergegerbte Gesichter,
gebleichtes Haar.

Vom Kinde, und
nicht nur diesem,
grenzenlos bewundert,
umweht sie ein
Hauch von Kühnheit,
abenteuerlicher
Romantik.
Blick zu ihnen auf,
und die Gedanken fliegen,
Wunschbilder gaukeln,
färben den Tag, den
Abend ein.

Für Wochen spielen – sind
alle Kinder Pfostensteiger,
furchtlose, wilde Gesellen,
auf sich gestellt, im
Lande unterwegs.
Der elterliche Abendruf,
ungern vernommen,
verschafft Atempausen,
Nahrung, unruhigen Schlaf.
Morgen schon sind sie wieder da,
Kinder gibt es nicht, nur Vagabunden,
Kämpfer für die Sache.

Wie gern wär
ich noch einmal
dabei.

Lebenszeit

Geboren.
Von nun an gilt’s, die Lebensuhr,
sie tickt.
Kindheit, Jugend, Erwachsensein,
schier endlos die Zahl an Stunden, Tagen,
fluide Summation der Zeit.

Eines Tages,
jäh,
ist er da, der Gedanke an das Ende der Perlenschnur,
Lebenszeit, unabänderlich knappes Gut.
Suche nach Sinn, gegen Verzagtheit und
Verwirrung Wechsel der Perspektive.

Die Eintagsfliege, vierzig Minuten,
ein paar Stunden zwecks Vermehrung nach dem Schlupf,
und sie stirbt ab.
Das Rotkehlchen, sangesfreudig,
zwei bis drei Jahre, manchmal etwas mehr.
Dagegen der Grönlandwal, zweihundert, und
der Grönlandhai, vierhundert.
Aber erst der Riesenschwamm,
auf antarktischem Meeresboden wachsend,
zehntausend Jahre ein Exemplar,
oder turritopsis dohrnii, eine Qualle im Mittelmeer,
unsterblich, mittels Zellverjüngung.

Also – die Eintagsfliege möcht ich nicht sein,
das Leben so kurz, rein arterhaltend,
das Rotkehlchen, der fröhliche Sänger,
verlockend schon, aber mein Gesang und im Winter
ohne Ofen, ach, lieber nicht,
Hunderte von Jahren bei Wal und Hai,
zehntausend gar beim Schwamm,
als Kost freilich Meeresgefleuch,
Plankton und Bakterien,
oder quallig-unsterblich vor Italien, Mallorca,
doch allzeit im Wasser,
nicht an Mediterraniens Land.

Nichts davon
scheint mir meines Lebens wert,
sei es wie es sei.
Gern vorlieb nehm ich da mit dem,
was ich bin, will, kann,
was zu ertragen, zu ändern ich vermag.

Wenn das nun alles ist,
ja, ich hör,
warum dann das Gedicht?
Das Leben spendierte mir
die Zeit dafür.
Ich find, so wenig ist das nicht.

Szenen

Ins Blau

Fetzen von Musik, Worten, Gelächter mäandern umher.
Menschen, kleine, große, junge, alte,
bunt gemischt auf dem Jahrmarktsplatz
in Trubel und Taumel.

Die zwei bewegen sich voller Schwung im Einklang,
vor geht es und zurück, hinauf und hinunter
Haare flattern im Wind, es rauscht in den Ohren.

Erst denkt man noch, man fiele.
Dann gilt nichts mehr, es ist wie ein Sog.
Einfach schwingen, lachen, weit weg von allem sein.

Und jetzt heben sie ab – fliegen,
so leicht, federleicht
Hinauf ins Blau, höher und höher,
ein Punkt, der rasend, schwindend sich entfernt.

Ein Hauch nur, eine Ahnung.
Kaum mehr als nichts.
Im Blau.
Das Blau.
Blau.

Warten

Er sitzt gerade auf dem Stuhl, dicht an dessen Kante,
die Gitarre auf den Boden gesetzt,
ruht der Hals in seiner rechten Hand,
die Augen nach vorn gerichtet,
der Blick nach innen gekehrt.

Er wartet.
Wie beinahe jeden Abend im Jahr.
Das Unbefangene einfangen –
damit auch heute gelingt, was unabdingbar ist,
damit sich das Konzert in Musik verwandelt.

Ein heller Gongschlag,
er erhebt sich und geht hinaus.

Regen

Tropfen, vereinzelt, fallen auf die Erde,
hinterlassen Tupfen auf dem Pflaster, auf den Wegen.
Boten eines Leben spendenden Elements
und Spuren der Vergänglichkeit in einem.

Des Regens lange Fäden ziehen umher.
Vorbei an Silhouetten von Häusern, Bäumen, eilenden Menschen.
Manche der Tropfen haben einen besonderen Klang, wenn sie aufprallen.
Mag sein, dass sie schneller sind als andere – oder schwerer.
Es könnten auch Tränen eines Engels sein, der vor Kummer weint.
Oder vor Glück.
Gleich springt jemand auf und konstatiert, dies könne ja gar nicht sein.
Also wirklich!

Wirklich?

Baum vor dem Fenster

Nacht
senkt sich über ihn
Mit dunklem Stamm
ragt er empor
aus grünen Wogen

Bewacht
von vier schlanken Ulanen
die leise zittern im Wind
ruhen seine Astgewebe,
feinste Linien,
vor sich hin

Vogelschwärme
ziehen vorüber
hoch oben am Himmel
winzige Punkte nur
ohne Gruß

Er steht
allein
in dunkler Nacht
bedarf unser
nicht

Frost

Am Morgen waren die Fensterscheiben übergefroren.
Draußen lag Schnee,
weiß und grell.
Darin eingezeichnet Spuren,
von Vögeln bestimmt und anderem Getier.

Die Kälte raubt einem den Atem, wenn man tief Luft holt.
Stapfen durch den Schnee – es fällt schwer mit der Zeit.
Die Zeit –   sie verliert sich,
Minute um Minute,
Sekunde für Sekunde.

Kein Halt,
kein Kompass,
keine Richtung.

Allein mit sich,
dem frostigen Hauch,
dem Lockruf der Ewigkeit.

Familienausflug


Drei Boote
in ruhigem Fahrwasser,
Wasserspiegel eben und glatt.

Wie ein Familienausflug
halten sich, an den Seilen gefasst,
das Kind, voran, Mutter, Vater, hinterdrein,
Kernfamilie, Sonntag nachmittag.

Ein nostalgisch verklärtes Bild –
jeder weiß es.
Wie war das mit dem sonntäglich
mißmutig hinterherzottelnden Kind?

Was ist mit der Großfamilie,
Patchwork-, Regenbogen-,
Einelternfamilie, der Pflegefamilie,
dem Kibbuz und der Kommune?

Differenzen, ja.
Doch gilt, was das Bootsbild
zeigt – Zusammenhalt, Verbindung, Harmonie,
unverzichtbar im Fluss gemeinsamen Lebens.

Und es wirft Fragen auf.

Im Teich

Blätter im Teich.
Seerosen im Kreis.

Ein Bild der Harmonie.
Mit Frosch,
getarnt, ungeküsst.

Das will er bleiben.
Wer weiß, wie es sich
als Prinz so lebt,
in erlauchten Zirkeln.

Alles neu, alles anders.
Und diese Ansprüche, denen
man genügen muss.

Frosch im Teich.
Darauf wird er lautstark beharren.

Mit den Rosen im Chor.

Möve

Sturmmöwe,
Rabe des Meeres,
Pirat der Lüfte

Wagt sie die große Reise
über sturmgepeitschte See
nach Sansibar, Kap Hoorn,
Tahiti, Haifa, Finkenwerder Kutterhafen

Gelingt`s ihr loszulassen, der Sprung
ins kühne Abenteuer, Sieg über
Zweifel, Ängste, Widerstände,
und sei es ein einziges, einzigartiges Mal

Oder wählt sie das Los des Kulturfolgers,
die Brosamen zivilisierter Bequemlichkeit,
des hadernden, melancholischen Träumers –
wie bekannt einem dies doch ist,
oder nicht?